Freitag, 29. März 2024

„Ich habe Ja zu mir gesagt“ – Yasmin Kwadwo zum Thema Meditation

 

Foto: Jörg Manthey

Topsprinterin Yasmin Kwadwo vom LC Paderborn hat die Meditation als Trainingsmittel für sich entdeckt. Corona-Zwangspause effektiv dazu genutzt, um eine Verletzung aus der Hallensaison auszukurieren. Traum: eine Olympia-Medaille.

Die Wald-Wiesen-Wohnzimmer-Improvisation ist Vergangenheit. Seit zwei Wochen kann Yasmin Kwadwo endlich wieder auf der Tartanbahn des Ahorn-Sportparks trainieren. „Ein geniales Gefühl“, sagt die 29-jährige Sprinterin des LC Paderborn, die nach ungewissen Monaten samt Verschiebung der Olympischen Spiele in Tokio um ein Jahr sowie der Komplettabsage der Europameisterschaften in Paris womöglich auf ein lohnendes Ziel hintrainieren kann. Zumindest Gerüchten zufolge plant der Deutsche Leichtathletik-Verband, Anfang August seine Nationalen Meister zu küren. Sollte es dazu kommen, überlegen sie laut Kathi Panitz beim LC Paderborn, dafür im Ahorn-Sportpark einen Qualifikationswettkampf
anzubieten.

Ausgebremst von einem Virus: Der Corona-Stillstand hat die Sprinterin natürlich brutal erwischt, aber nicht aus der Bahn geworfen. „Alles hat seinen Sinn“, philosophiert sie als gottesgläubiger Mensch. Schließlich wurde Yasmin Kwadwo so unfreiwillig Zeit geschenkt, eine fiese Verletzung aus der Hallensaison auszukurieren; einen schweren Muskelfaserriss mit starker Einblutung. „Der Druck war damit erstmal verpufft und wir hatten genug Zeit für den Aufbau von grundlegender Fitness und Athletik.“ Ein weiterer Baustein, der ihr half, die Situation so schnell wie möglich zu akzeptieren: Im Frühjahr 2019, als sie nach einer Reihe von Rückschlägen mental ziemlich „down“ war („Der Fokus war nicht da, die mentale Stärke verschüttet“), hatte Yasmin Kwadwo die Meditation für sich entdeckt; die Handy-App „Headspace“ als wertvolles ergänzendes Trainingsmittel für den Kopf. Zusammen mit dem Sport ergibt das seither eine fruchtbare Symbiose. „Ich habe ganz bewusst Ja zu mir selbst gesagt“, bringt die schnelle Frau ihre Lektion auf den Punkt. Längst hat sie die Meditation als Achtsamkeitsritual in ihren mitunter überladenen Alltag integriert. Einatmen, Ausatmen, Abtauchen in eine andere Welt. Die Arbeit mit der App schenkt ihr die Möglichkeit, das Ganze ungezwungen und in ihrem eigenen Tempo durchzuführen. „Drauf einlassen und loslassen. Meditation ist kein Hexenwerk“, erzählt die Sprinterin, die beseelt ist von einem großen Traum: eine Olympia- Medaille 2021 in Tokio, das wär’s! Auf dem steinigen Weg dorthin wird „Headspace“ fraglos noch gute Schrittmacherdienste für Motivation und Fokus leisten. Dafür, das System runterzufahren und sich regelmäßig eine innere Einkehr zu gönnen. Dafür, Emotionen zu verstehen und aktiv zu lenken. Dafür, Zweifel zu besiegen oder Situationen einfach zu akzeptieren. Aber genauso, um in einen Flow-Zustand zu kommen oder auch besser zu regenerieren.

Foto: Jörg Manthey

Bei der DM 2017 hatte Yasmin Kwadwo zum ersten Mal überhaupt das 100 Meter-Finale verfehlt, ein Jahr später auch noch ihren Kaderstatus verloren. „Ich wurde fallengelassen“, meint sie. Negativerlebnisse, die prägten, deren edlen Kern sie aber erkannte und verstand: So konnte es nicht weitergehen! Eine Veränderung musste her. „Es gab Zeiten, da bin ich mit einer gewissen Wut im Bauch gelaufen, um es meinen Kritikern zu zeigen. Das war genau der falsche Ansatz. Viele negative Gedanken haben mich blockiert. Ich bin jetzt viel aufgeräumter im Kopf und weiß: Alles, was ich mache, mache ich nur für mich.“ Effekte ihrer „neuen“ leichten Geisteshaltung samt leichterem Laufschritt sind messbar. Im vorigen Jahr stürmte sie bei den Bayer-Classics in Leverkusen als Tagessiegerin in 11.25 Sekunden über den Zielstrich; ihre schnellste Zeit
seit sieben Jahren. „Da habe ich abgeliefert.“ Die Zinsen: Der Verband belohnte dies mit einer Nominierung für die 4 x 100-Meter- Staffel, die es bei der Weltmeisterschaft 2019 in Doha auf Platz fünf schaffte.
Ihre 60-Meter-Zeit von 7,26 Sekunden bei den Deutschen Hallenmeisterschaften im Februar in Leipzig interpretierte sie als Signal,
dass der Wechsel zum LC Paderborn eine gute Entscheidung war. „Und da war noch mehr drin“, filterte sie einige Fehler heraus. Die olympische A-Norm für die 100 Meter liegt bei 11.15 Sekunden. Eine Zeit, die Yasmin
Kwadwo sich zutraut. „Ich spüre, dass ich noch Potenzial raushauen
kann.“ Die ambitionierte LC-Staffel, dafür bürgen auch ihre neun Jahre jüngeren Schwester Keshia und Frontfrau Tatjana Pinto, habe gleichfalls Potenzial für Topzeiten. „Ich laufe gerne Staffel. Das ist ein Extrakick für mich. In Mannheim sind wir die 4 x 100 Meter in 42.97 Sekunden gelaufen. Ich bin sicher, dass wir das hier toppen können.“

Yasmin Kwadwo ist wohl Profisportlerin, bastelt nebenbei aber an einem zweiten Standbein. 2019 schloss sie in Mannheim ihr Bachelor-Studium ab, Englisch und Geschichte auf Lehramt. „Damit könnte ich als Vertretungslehrerin arbeiten“, sagt sie. Nachdem sie ihren Lebensmittelpunkt inzwischen nach Paderborn verlagert hat, will sie hier an der Universität noch den „Master“ anschließen. Im November wird Yasmin Kwadwo 30. Beim Training am Freitag begrüßte Thomas Prange flapsig seine „Sprint-Oma“. Vor dem Alter hat die Athletin keine Angst; wozu auch? „Guck dir doch mal die Weltspitze an. Shelly-Ann Fraser-Pryce ist 33, Marie Josée Ta Lou ist 31, Tori Bowie wird wie ich 30“, erklärt sie. Apropos Thomas Prange: „Er sieht nicht nur den Athleten, sondern auch den Menschen dahinter. Das ist in dieser Szene schon besonders“, lobt sie
die Empathie ihres Trainers, der an sie glaubt. Das bewusste Wahrnehmen des aktuellen Momentes: Meditation relativiert auch die Wichtigkeit von Sieg und Niederlage. Auf die Frage, ob sie es bedauert, dass sie nicht schon eher die Vorzüge dieser Technik entdeckt hat, schüttelt Yasmin Kwadwo den Kopf. „Nein. Es ist, wie es ist. Ich bedaure nichts in meinem Leben. Es gab sicher viele falsche Entscheidungen. Doch sie haben mich zu dem Menschen und Athleten geformt, der ich heute bin. Dass die Meditation
jetzt in mein Leben gefunden hat, ist genau der richtige Zeitpunkt.“
Es wird eine Zeit nach Corona geben. Wenn Yasmin Kwadwo sich etwas wünschen dürfte, dann dies: „Dass die Menschen nach dieser Krise das Bewusstsein und die Achtsamkeit für Solidarität und Miteinander beibehalten.“

Quelle: Westfalen-Blatt (26.05.2020, Jörg Manthey)